Samstag, 20. April 2024

Rassismus und Antirassismus

 Die Tatsache, dass es die anspruchsvollen wissenschaftlichen Artikel der Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" jetzt online zu lesen gibt, veranlasst mich, jetzt zwei von diesen Aufsätzen aus dem Jahr 2020 vorzustellen, damit sich die Wahrscheinlichkeit, dass diese Zeitschrift auch im Netz gelesen wird, sich ein wenig vergrößert.

In dem Aufsatz von Naika Foroutan: "Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft" heißt es unter anderem:

"In der einschlägigen Rassismustheorie lässt sich die Funktionsweise von Rassismus im Wesentlichen in einem Dreischritt beschreiben:

In einem ersten Schritt werden Menschen beziehungsweise Menschengruppen aufgrund von Merkmalen, die je nach historischem Kontext unterschiedlich gewählt werden können, als homogene Gruppen dargestellt und eingeteilt.Zur Auflösung der Fußnote[12] Dabei muss das zugeschriebene Merkmal nicht zwingend auf die einzelnen Individuen zutreffen, es fungiert als "Bedeutungsträger".Zur Auflösung der Fußnote[13]

In einem zweiten Schritt – oftmals als Rassifizierung bezeichnetZur Auflösung der Fußnote[14] – werden diese Merkmale biologisiert, und ihren Träger*innen werden spezifische, meist negative Eigenschaften zugeschrieben.Zur Auflösung der Fußnote[15]

In einem dritten Schritt findet schließlich eine HierarchisierungZur Auflösung der Fußnote[16] der derart konstruierten Gruppen statt. Je nach Gesellschaftsformation ermöglichen solche Hierarchien zwar auch flexible Übergänge zwischen dem "Wir" und "den Anderen". Als anders gelesene Gruppen zu markieren und systematisch abzuwerten, kann indes nur gelingen, wenn gesellschaftliche Strukturen ermöglichen, die Verteilung von Handlungschancen sowie die Bewältigung von Konflikten in der Form solcher kollektiven Identitäten zu artikulieren und organisieren. [...]"

In Deutschland entstand nach dem Zweiten Weltkrieg (ab 1945), als der Holocaust allgemeiner bekannt wurde, nicht zuletzt durch Anne Franks Tagebuch ein Schuldgefühl gegenüber den Juden, an denen dieser Völkermord begangen worden war. Dagegen fühlten sich die meisten Deutschen am internationalen Kolonialismus nicht mitschuldig, denn die deutschen Kolonien, beispielsweise Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Togo sowie Kamerun waren im Versailler Vertrag 1919 als Mandatsgebiete des Völkerbunds unter britische und französische Verwaltungshoheit gestellt worden. Mit denen hätten die Deutschen ja nichts mehr zu tun. 

Doch gerade, dass die Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien nicht mehr bestanden, hatte dazu geführt. dass manche Bürger dieser Kolonien nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten. 

Dazu heißt es in dem Aufsatz von Tiffany N. Florvil: Transnationale Perspektiven auf Schwarzen Antirassismus im Deutschland des 20. Jahrhunderts:

"Diese Schwarzen Deutschen engagierten sich als Aktivist*innen gegen Kolonialismus und Rassismus in Deutschland, da das Ende der deutschen Kolonialzeit keineswegs das Ende europäischer kolonialer Strukturen, Einstellungen und Politik bedeutete. So reichte Martin Dibobe, der erste Schwarze Zugführer im Berliner Nahverkehr, gemeinsam mit 18 anderen Männern aus früheren deutschen Kolonien, im Juni 1919 beim Reichskolonialministerium und beim Reichstag eine Petition ein. Darin verurteilten sie den Rassismus, traten dafür ein, Afrikaner*innen gleiche Rechte und gesetzliche Anerkennung zuteilwerden zu lassen und verlangten Teilhabe am neuen demokratischen System in Deutschland. Sie erhielten nie eine Antwort, allerdings handelte es sich um die erste kollektive Bemühung, in der Metropole offen dem Rassismus entgegenzutreten, der sich gegen die Rechte afrikanischer Menschen in Europa und den Kolonien richtete.Zur Auflösung der Fußnote[1] [...]

1930 organisierte der in Trinidad geborene George Padmore eine internationale Konferenz Schwarzer Arbeiter in Hamburg, bei der die Delegierten unter anderem universelle Arbeiterrechte, die volle Unabhängigkeit aller Kolonien und das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen forderten. Ebenfalls in Hamburg gab er bis 1931 "The Negro Worker" heraus, das Sprachrohr des Internationalen Gewerkschaftskomitees für Schwarze Arbeiter. Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme 1933 veranlassten die Nationalsozialist*innen Padmores Abschiebung. In seinen Werken setzte sich Padmore für die unterdrückten und ausgebeuteten Schichten ein. Als bekennender Kommunist war sein Antirassismus zugleich internationalistisch. Er thematisierte die mannigfaltigen Ausprägungen des Rassismus und bot Handlungsmöglichkeiten an, die auf ein Ende der weltweiten Klassenausbeutung sowie der rassistischen und kolonialen Unterdrückung zielten. Später sollte er sich offen als Anhänger und Unterstützer panafrikanischer Initiativen bekennen. So gründete er zusammen mit anderen 1937 mit dem International African Service Bureau ein Netzwerk, mit dem die Korrespondenz zwischen afrikanischen und karibischen Gewerkschaftler*innen und Intellektuellen koordiniert wurde.Zur Auflösung der Fußnote[7]

Diese Entwicklungen der Zwischenkriegszeit deuten darauf hin, dass der antirassistische Aktivismus eher auf intellektuellem und kulturellem Wege zustande kam als durch die unmittelbare politische Konfrontation. In der NS-Zeit blieben diese transnationalen Verbindungen – wenn auch in anderer Form – erhalten. So erschienen in afroamerikanischen Zeitungen wie dem "Chicago Defender" oder dem "Pittsburgh Courier" Artikel zur Entwicklung in Deutschland, zum Rassismus der Nationalsozialist*innen, zum Leben unter dem NS-Regime sowie später zu den Erfahrungen afroamerikanischer Soldaten im Nachkriegsdeutschland.Zur Auflösung der Fußnote[8] Ihre durch rassistische Zuschreibungen geprägten Erlebnisse im besetzten Deutschland lassen auch die Widersprüche der Demokratie und der seit 1949 im Grundgesetz verankerten "Gleichheit vor dem Gesetz" deutlich hervortreten. [...]

Die Präsenz US-amerikanischer Soldaten in Deutschland ermöglichte einen produktiven Austausch zwischen ihnen und der westdeutschen Bevölkerung. Afroamerikanische Soldaten warben für die Etablierung einer funktionierenden Demokratie und von Freiheitsrechten, während sie selbst immer noch in einer Armee dienten, die rassistischen gesetzlichen Vorgaben unterlag und weder ihr Menschsein anerkannte noch ihren Beitrag zur Kriegsanstrengung honorierte. Ironischerweise erlebten sie im Westdeutschland der Nachkriegszeit ein Maß an Freiheit, wie sie es zuvor nie gekannt hatten.

Deutsche in Ost und West schenkten dagegen dem Rassismus außerhalb ihrer Grenzen vielfach mehr Aufmerksamkeit als dem im eigenen Land. So berichteten deutsche Zeitungen über US-Bürgerrechtsthemen, etwa 1957, als drei Jahre, nachdem der Oberste Gerichtshof in den USA die Rassentrennung an Schulen für verfassungswidrig erklärte hatte, neun afroamerikanischen Schüler*innen von gewalttätigen Demonstrant*innen mit Unterstützung der Nationalgarde der Besuch der Little Rock Central High School verwehrt wurde.Zur Auflösung der Fußnote[9] Das wachsende Interesse an diesen Themen war auch bei den viel beachteten Besuchen prominenter Bürgerrechtler wie Martin Luther King Jr. und Ralph Abernathy in Frankfurt am Main sowie in Ost- und Westberlin 1964 erkennbar. Dieser Austausch brachte auch Deutsche dazu, Schritte gegen Rassismus einzufordern, während sich die westdeutsche Politik indes stark auf die Eindämmung des Kommunismus in all seinen Erscheinungsformen konzentrierte. [...]

In den 1960er Jahren waren viele westliche Führungspersönlichkeiten zudem überzeugt, die Black-Power-Bewegung bedrohe den weißen Status quo.Zur Auflösung der Fußnote[10] Anders sahen dies radikale Student*innen des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), die sich 1967 mit der Black-Power-Bewegung und anderen linken Schwarzen Bewegungen solidarisch erklärten.Zur Auflösung der Fußnote[11] [...]  Deutsche Studierende und afroamerikanische Soldaten planten gemeinsam Versammlungen, Teach-Ins und Proteste, darüber hinaus gaben sie die Untergrundzeitung "Voice of the Lumpen" heraus. [...] Antirassistische Ideologie und internationalistische Perspektiven bestärkten die Schwarze deutsche Bewegung in ihrem Vorgehen, zu dem Workshops, Proteste und Vorträge in verschiedenen deutschen Städten gehörten. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren kritisierten Schwarze Deutsche deutlich die Renaissance des ethnischen Nationalismus und den Neofaschismus in Deutschland und Europa. [...] Die deutsche Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM) nahm ihren Anfang 2016. Mit ihr ist ein Raum für neue kritische Methoden entstanden, die den sich überschneidenden Formen der Unterdrückung Rechnung tragen, damit die Lebensbedingungen für Schwarze Deutsche verbessert werden können. In ihren Aufrufen zum Handeln ähnelt die deutsche BLM-Bewegung jenen in Großbritannien, Frankreich und den USA. In Deutschland manifestiert sie sich insbesondere in Kampagnen gegen staatliche Gewalt und für ein Ende der Rassen- und Geschlechterdiskriminierung, wobei sie die Aufmerksamkeit auch auf die verbreitete Polizeigewalt lenkt. [...]"

(Walter Böhme, Webmaster der "Nachbarschaft")

Donnerstag, 18. Januar 2024

Rinaudo und Aufforstung in Afrika

"[...]Rinaudo entwickelte in den 1980er und 1990er Jahren die Wiederaufforstungstechnik „Farmer Managed Natural Regeneration“ (FMNR), bei der aus den unter dem Wüstensand verborgenen Wurzelsystemen Bäume herangezogen werden. So wurden erfolgreich Teile der Sahelzone wieder begrünt. Er und sein Team konnten mit dieser Methode über 200 Millionen neue Bäume in der Sahelzone heranziehen, und andere Teams zogen weitere 600 Millionen mit seiner Technik heran. Insgesamt gab es bis 2019 20 Millionen Hektar mit einer durchschnittlichen Baumdichte von etwa 40 Bäumen pro Hektar.[1][2]

2018 wurde ihm der Right Livelihood Award – auch als Alternativer Nobelpreis bekannt – zusammen mit Yacouba Sawadogo verliehen.[...]" (Wikipedia)


Mehr zum Thema auf diesem Blog seit 2012


 

Donnerstag, 4. Januar 2024

Afrika ist so jung wie kein anderer Kontinent der Welt

 "[...] Eine ganze Welle an Militärcoups machte 2023 deutlich, dass die Demokratie auf dem Kontinent in die Defensive geraten ist. Einmal mehr wird deklariert, die Herrschaft des Volkes sei ein „westliches“, für Afrika ungeeignetes Konzept – als ob die Bewohner:innen des Kontinents ihrer Natur nach lieber gegängelt und gepiesackt würden. Dabei bringt jede ernst zu nehmende Umfrage zum Vorschein, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen in Afrika die Demokratie in ihrer Heimat vorzieht. [...]

In einem Vierteljahrhundert wird jeder vierte Mensch in Afrika leben. Der Kontinent ist so jung wie kein anderer der Welt: Seine Bewohner:innen sind durchschnittlich 19 Jahre alt, im Unterschied zu fast 45 Jahren in Deutschland. Jung, zahlreich, gut ausgebildet und virtuell mit der gesamten Welt vernetzt sind sie eine Macht, mit der künftig zu rechnen ist. Der Einfluss des Kontinents auf die Geschicke der Menschheit wird in den kommenden Jahrzehnten rapide zunehmen: Dafür werden auch Afrikas wachsender Markt und sein unverhältnismäßig großer Anteil an den Quellen erneuerbarer Energien sorgen.  [...]

Johannes Dieterich, Afrikakorrespondent der Frankfurter Rundschau, über seine Erfahrungen mit Afrika, FR 2.1.2024

Samstag, 16. Dezember 2023

Deutsch als Fremdsprache und Hilaire Mbakop

 https://deutsch-lernen.zum.de/wiki/Hauptseite


Diese beiden Links verweisen auf Seiten, die die meisten Leser unseres Blogs nicht direkt angehen, denn sie sind für Anfänger beim Deutschlernen und für Lehrer, die Anfänger zu unterrichten haben, gedacht.

Bei der Gelegenheit möchte ich auf einen Kameruner Schriftsteller hinweisen, der jetzt in Deutschland deutsche Muttersprachler in das Verständnis der deutschen Sprache und der deutschen Literatur einführt: Hilaire Mbakop, über den wir in diesem Blog schon mehrfach berichtet haben. Er ist nämlich deutscher und französischer Schriftsteller, obwohl seine Muttersprache Medumba zu den Bamileke-Sprachen gehört. Es ist zu vermuten, dass auch die Mehrheit der Kameruner diese Sprachen nicht kennt. Selbst Mbakop kann in seiner Muttersprache, die auf eine altägyptische Sprache zurückgeht,  nicht schreiben, weil es zur Zeit, als er auf die Schule ging, noch keine Schrift für diese Sprache gab. Deshalb hat er, um viele Kameruner zu erreichen, auf Französisch und Deutsch schreiben müssen.

sieh auch: Deutsch für die Zukunft (Deutsche Sprache in Kamerun): "Wohl in keinem afrikanischen Land wird soviel Deutsch gesprochen wie in Kamerun: von etwa 300.000 Menschen. Deutsch ist angesagt in Kamerun – nicht nur wegen der Möglichkeiten, so einen besseren Job zu bekommen. [...]"

Montag, 4. Dezember 2023

Seminar zur Präsentation des neuen Lehrwerks „Und jetzt WIR“

Am Samstag, dem 18. November 2023, wurde an der Government Bilingual High School Bépanda in der Stadt Douala ein Präsenzseminar veranstaltet.

 Geleitet wurde es von dem Nationalfachberater für Deutsch in Kamerun Cyrille Akoa Ambassa, begleitet von Serge Eke, unter der allgemeinen Koordination der Expertin für Unterricht am Goethe Institut Kamerun Kirsten Böttger. Besucht wurde es von zwanzig Deutschlehrern, die aus verschiedenen Städten der „
Littoral Region“ kamen.

Das Ziel des Treffens war es, das aktualisierte Lehrwerk „Und jetzt WIR“ Band 1 aus dem Hueber Verlag zu präsentieren und sich aus objektiv kritischer Sicht darüber auszusprechen.



Nach den Begrüßungs-worten durch den Nationalfachberater Cyrille Akoa Ambassa an die verschiedenen Teilnehmer, ergriff Serge Eke das Wort, um das neue Lehrwerk im Großen und Ganzen zu präsentieren. Es besteht aus einem Kursbuch und einem Arbeitsbuch, beinhaltet 8 Kapitel. Jedes Kapitel im Kursbuch hat 8 Teile, nämlich Texte, Strukturen, Elemente, Erweiterung, Informationen, Grammatik, Lernwortschatz und Projekte.

Das Lehrwerk richtet sich besonders an Deutschlernende aus dem Sudsahara- Raum und wird unter Mitarbeit verschiedener afrikanischer und deutscher Autoren verfasst. Die afrikanischen Autoren kommen aus Senegal, Simbabwe, Côte d’Ivoire, Kenia, Burkina-Faso, Südafrika. Daraus resultiert die offene, mehrdimensionale und multikulturelle Tragweite des Lehrwerks. Das Kursbuch wird von einem Arbeitsbuch begleitet und bietet eine Vielfalt von Übungen zur autonomen Einzel- , Partner- oder Gruppenarbeit. Es kann also individuell bearbeitet und erfolgreich zur Binnendifferenzierung eingesetzt werden. Das Lehrwerk bietet nach jedem Kapitel auch die Möglichkeit zur Selbstevaluierung und ermöglicht durch die Bereitstellung von digitalisierten Übungen ein selbstständiges Arbeiten mit automatisierter Verbesserung. Innovativ und interessant ist an „Und jetzt WIR“, dass alle Seiten farbig gedruckt sind und mit aktuellen authentischen Bildern veranschaulicht werden.

Leider ist „Und Jetzt Wir“ nicht in Modulen konzipiert. Nach dem Grundprinzip der Präsentation von Lehrwerken im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmensollte ein modernes anerkanntes Lehrmaterial aus Modulen bestehen, die außerdem in Lektionen oder Kapitel unterteilt sind. Bei „Und jetzt WIRist das nicht der Fall.

Das Treffen, das um 9 Uhr anfing, schloss um 17 Uhr. Unser Wunsch wäre, dass das Lehrwerk endlich anerkannt wird und nächstes Schuljahr auf dem Programm steht.


William CHANTCHO, DaF- Lehrkraft, Douala


Montag, 13. November 2023

Afrikanische Philosophie

 Aus einem Interview mit dem senegalesischen Philosophen Souleymane Bachir Diagne* über die Ideen des Ubuntu und anderes, ZEIT 9.11.23

Zunächst räumt Diagne mit zwei in Europa üblichen Missverständnissen auf. Zunächst der Gedanke, das eigentliche Afrika sei nur das südlich der Sahara, dabei gehört die arabische Kultur ganz wesentlich zu Afrika. Und sie hat zwischen der griechischen Philosophie der Antike und der europäischen Aufklärung der Moderne die Verbindung hergestellt, etwa, wenn man an Muslim Averroes denkt, der als umfassender Denker der arabischen Schriftkultur eine Voraussetzung der Renaissance am Beginn der Neuzeit geliefert hat.

Das andere Missverständnis ist, dass afrikanische Philosophie primär mündlich gewesen sei. Dabei sind in Timbuktu "Hundertausendevon Handschriften, die alle Wissenschaften umfassen und bis auf das 12. Jahrhundert zurückgehen."*

Dabei ist durchaus richtig, dass manches, was afrikanische Philosophie ausmacht, schon in einzelnen Wörtern der gesprochenen Sprache zu fassen ist:

"Nehmen Sie das Wort Ubuntu. Heute kennt man es in aller Welt, weil es in dem Südafrika von Nelson Mandela und Desmond Tutu so wichtig war. Die beiden fanden, dass die Weisheit dieses Worts, das aus den Bantusprachen der Zulu und Xhosa kommt, sich eigne, um den politischen Weg zu beschreiben, der aus der Apartheid führt. Denn Ubuntu bedeutet: gemeinsam zu Menschen werden, einander wechselseitig menschlich machen. Mandela und Tutu verwendeten deshalb das Wort Ubuntu im ersten Entwurf der südafrikanischen Verfassung, und im Zeichen dieses Begriffs hat die Wahrheits- und Versöhnungskommission dann gearbeitet."

Dazu passt eine Redensart in der afrikanischen Sprache Wolof:

"Der Mensch ist ein Heilmittel für den Menschen. Nit nitay garbam. Darin steckt das Wort nit, für den einzelnen Menschen, als Kraft. Als in Afrika debattiert wurde, ob die universellen Menschenrechte in afrikanischem Denken wurzeln oder nur eine westliche Erfindung sind, hat der Gedanke dieser Redensart eine zentrale Rolle gespielt. Für die afrikanische Charta der Menschenrechte ist grundlegend, dass das Individuum erst zur unverwechselbaren Person wird, indem die Gemeinschaft ihm Rechte zuschreibt. Aber vielleicht ist es beim Blick auf die gegenwärtige politische Welt vor allem wichtig, die Idee des Ubuntu zu universalisieren: damit wir aus den kriegerischen Stammesideologien herausfinden und gemeinsam zu Menschen werden, einander wechselseitig menschlich machen. Das ist es, was die afrikanische Philosophie der Welt heute zu sagen hat. " (Diagne)

* Diagne (engl. Wikipedia)

* Zur gegenwärtigen Situation: "Etwa 4.200 Exemplare der berühmten Timbuktu-Manuskripte sind von den Rebellen gestohlen oder zerstört worden, jedoch konnten über 300.000 Handschriften in die Hauptstadt Bamako gebracht werden und entgingen so der Vernichtung. Derzeit werden sie digitalisiert und konservatorischen Maßnahmen unterzogen." (Wikipedia)


Donnerstag, 2. November 2023

Verständigung über Kulturgrenzen hinweg: Weiße und Indigene - Gilgamesch und Enkidu

  Neue archäologische Methoden sind von einem indigenen Wissenschaftler eingeführt worden. Carlos Augustoda Silva.* "Der Archäologe unterrichtet seit Beginn des Jahrtausends an der Universität in der brasilianischen Regenwald-Metropole Manaus am Rio Negro.[...] 

"Wir kommen aus Denkschulen, in denen viel auf die Zusammenhänge zwischen allen Lebewesen geschaut wurde."

Er selbst hat sich zum Beispiel einen Namen dadurch gemacht, dass er bei seinen Ausgrabungen den Pfaden bestimmter Ameisenarten folgte, die ihn zu Hohlräumen unter dem Waldboden und damit zu einigen spektakulären Funden führte. Ein ausgegrabenes Tongefäß erzähle für ihn nicht einfach eine Geschichte über prähistorische Menschen, sagt er – sondern über das Leben aller Tiere, Pflanzen, des Bodens, sämtlicher Wesen an diesem Ort. "Sie können das natürlich eine Fundstätte nennen", sagt er. "Aber ich finde eine Gebärmutter vor. Einen Ort, aus dem einmal viel Leben hervorgegangen ist."
 Auf seinem Telefon hat da Silva ein paar Nummern von anderen Forschern mit indigenen Hintergrund gespeichert, die an Universitäten im großen Gebiet des Amazonaswalds arbeiten. Viele sind es nicht, er zählt die Namen an den Fingern seiner rechten Hand ab. "Wir haben noch immer ein Problem mit der akademischen Monokultur", sagt er mit einem Seitenhieb auf die Mehrheitskultur der Weißen, die seine amazonische Heimat mit Bulldozern platt walzen lässt, um Soja- und Maisplantagen daraus zu machen.
Die größte Vielfalt ist bisher in der anthropologischen Forschung entstanden. Auf dem Feld haben sich in Brasilien zuletzt Leute wie Joao Paulo Barreto  Gehör verschafft, ein Schamanensohn aus dem Volk der Tukano: Er regte 2013 einige Aufmerksamkeit mit einer Forschungsarbeit über ein Konzept seiner Heimatkultur, der Wai-Mahsa, Zwitterwesen aus Fisch und Mensch. Die Arbeiten westlicher Wissenschaftler zu dem Thema bezeichnete er als viel zu stark vereinfacht, die bisherige Forschung laufe sogar auf große Missverständnisse heraus.
Seit ein paar Jahren nun bemüht sich Barreto um ein besseres Verständnis zwischen westlichen und indigenen Heilpraktikern, er hat dafür ein Institut in der Anstalt Altstadt von Manaus eröffnet. "Ich glaube, dass ein solcher Dialog möglich ist, aber zuerst muss jede Seite verstehen, worauf das Wissensmodell des Gegenübers basiert", sagt er. Deshalb beteiligt er sich seit 2018 auch an der Herausgabe einer monumentalen Bücherreihe, in der indigene Denksysteme durch indigene Forscher und traditionelle Wissensbewahrer dargestellt werden – eine Volksgruppe nach der anderen." (Thomas Fischermann: Forscher, nicht Handlanger, ZEIT Nr 46, 2.11.2023)

Carlos Augusto da Silva [verkürzte Maschienübersetzung des portugiesischen Textes:] der den Weg der Ausgrabung von Artefakten und Stücken aus der Zeit vor Tausenden von Jahren verfolgte, hat jetzt einen Doktortitel in Archäologie von der Bundesuniversität von Amazonas (Ufam).
Carlos Augusto da Silva, 59, wurde als Sohn eines Fischers und Zimmermanns in der Gemeinde Manaquiri (60 km von Manaus entfernt) im Bundesstaat Amazonas geboren. Seine Großeltern waren indigener Herkunft und gehörten den Volksgruppen der Munduruku und Apurinã an. [...] Ende der 1960er Jahre hatte er als Zimmermannsgehilfe für seinen Vater Clóvis Inácio da Silva (verstorben) an der Erweiterung des Ufam-Campus gearbeitet. In den 1980er Jahren schloss er die Sekundarschule an einer öffentlichen Schule in Manaus ab. Im Jahr 1992 schrieb er sich für den Studiengang Sozialwissenschaften an der Ufam ein.

Nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften hätte er eine Karriere in einigen der Bereiche seines Studiums anstreben können, doch als er 1998 den Archäologen Eduardo Góes Neves kennenlernte, einen ordentlichen Professor für brasilianische Archäologie und Mitglied des Museums für Archäologie und Ethnologie an der Universität von São Paulo (USP), bewirkte die Freundschaft und Partnerschaft zwischen den beiden eine Wende in Silvas beruflichem und akademischem Leben. Er begann, den Weg der Archäologie einzuschlagen.
Carlos Augusto da Silva [...] machte 2010 seinen Master in Umweltwissenschaften mit Schwerpunkt Archäologie, ebenfalls an der Ufam. Im Jahr 2013 trat er der Brasilianischen Archäologischen Gesellschaft bei.
In der Amazonas-Archäologie ist Silva einer der Pioniere bei der Bergung alter Graburnen. Er hat bereits mehr als 70 Urnen aus Hinterhöfen, Straßen und öffentlichen Anlagen in Manaus und im Landesinneren von Amazonas geborgen, von denen viele durch den Einfluss der Zeit, des Menschen und die Missachtung des archäologischen Erbes der Stadt durch die Behörden stark beschädigt wurden. 


Schon das älteste Epos der Menschheit handelt von der Begegnung zweier extrem unterschiedlicher Kulturen, von dem sumerischen Herrscher Gilgamesch und dem "Wildmenschen" Enkidu, der mit den Löwen zieht und mit den Gazellen Gras frisst. 
Schamatu, die Dienerin der Göttin Ištar,  lehrt Enkidu die Sprache der Menschen, so dass Gilgamesch und Enkidu, die merken, dass ihnen ein gleich gewaltiger Held gegenüber steht, eine innige Liebesbeziehung entwickeln und es wagen, gemeinsam die größten Gefahren zu bestehen: Gemeinsam sind wir unschlagbar.